Meine Großeltern hatten, als es für einen mittelständischen Unternehmer noch erschwinglich war, in Bellinzona ein Haus mit einem phantastischem Garten. Da habe ich als Kind praktisch alle Sommerferien und auch so manches Weihnachtsfest und so manche Osterferien verbracht. Später haben sie das Haus verkaufen müssen, aber eine Mietwohnung für den Sommer konnten sie sich dann doch nicht verkneifen. Da war ich schon älter und habe neben dem Studium Taxi gefahren. So war ich geradezu dafür prädestiniert, Oma und Opa in den Sommersemesterferien eine Woche lang im dicken Benz durch die Südalpen zu kutschieren. Der Wagen hatte die Boxen vorne. Damit Oma, hinten sitzend, die Musik hören konnte, musste ich auf der Anlage ordentlich Stoff geben. Opa, vorne sitzend und kriegsbedingt schwerhörig, hat das nicht nur befürwortet, sondern mich sogar noch weiter aufgestachelt. Und jetzt stellen Sie sich bitte die Szenerie vor: Ein weißer Benz, am Steuer der kleine Adolf
(Das Passfoto aus meinem Führerschein mag einen Eindruck vermitteln, wenngleich ich die Haare damals schon deutlich kürzer trug), vorne der Opa, hinten die Oma. Klimaanlage auf Hochtouren und die Stereoanlage ebenfalls. Banging-Car im Wortsinn, wenn auch mit anderer Musik.Es gab meistens Beethoven. Gerne die Pastorale. Dazu herrlicher Sonnenschein und kurvige, enge Gebirgsstraßen. Gelegentlich ging es auch am Lago entlang durch kleine Dörfer und Städtchen wie Locarno und Ascona. Mittags hatte ich frei, da haben die Großeltern sich aufs Ohr gehauen. Da habe ich mir mit dem Benz eigene Ausflugsziele gesucht. Zum Beispiel die Thyssen-Villa in Lugano. Klingt pervers, ist es auch, aber in schön. Jedes Jahr eine thematisch begrenzte Ausstellung mit Gemälden der Extraklasse. Die Thyssen-Stiftung war im Besitz derart vieler hochklassiger Gemälde, dass sie jedem Kunstmuseum der Welt Deals anbieten konnte: Wir leihen euch ein paar Dutzend Bilder für einen schicken Gastauftritt, und ihr stellt uns etwas annähernd Schickes aus eurer Sammlung zusammen. Ich durfte Gemälde im Original bewundern, die manche Menschen nicht einmal als hochwertigen Druck gesehen haben. Picasso, Vincent, Renoir... ALLE waren da. Und ich habe in 20 cm Abstand davor gestanden und gestaunt.
Das hier zum Beispiel hat mich tief berührt: Die "Absinthtrinkerin" von Picasso. (Ja! Der hat auch mal in Impressionismus gemacht!) Ich bin dann leider in meiner Begeisterung auf die Schnaps-(!)-Idee gekommen, das Bild als Postkarte an meine Chefin im Taxibetrieb zu schicken. Die hat damals während ihrer Nachtschichten in der Taxizentrale gerne das eine oder andere Bierchen gezischt. Ihre Begeisterung über meinen Urlaubsgruß hielt sich deshalb in überschaubaren Grenzen.Manchmal habe ich Mittags auch einfach nur "hardcore-Wandern" betrieben. Das hat dann so ausgesehen, dass der Opa mich nach einer leichten Mittagsmahlzeit an irgendeinem Grottino im Gebirge abgeworfen hat. Den Benz mit der Oma hat er alleine nach Hause gefahren, und ich bin mit Kamera, Wanderkarten und Bestimmungsbüchern im Rucksack losmarschiert. Meistens ist mir nach etwa zwei Stunden langweilig geworden oder ich habe den Weg verloren. Dann habe ich die Schnürsenkel an den Springerstiefeln enger geschnallt und bin (und das war WIRKLICH hardcore!) den Berg heruntergerannt. Querfeldein (sorry) Querwaldein. Irgendwann bin ich dann zerkratzt, schnaufend, schwitzend und geradezu dampfend (ich möchte nicht wissen, wie das gerochen hat) am Rand von Bellinzona aus dem Wald gesprungen und habe dabei vermutlich Anwohner erschreckt. Dann rasch in die Pension, duschen, hier und da ein Pflaster aufkleben, umziehen und dann zu den Großeltern: Lagebesprechung und Planung des Abendbrots.
Das war immer eine tolle Woche.
Nach Opas Tod hat Oma die Tradition noch eine Weile fortgeführt und ist im Sommer alleine nach Bellinzona gefahren. Da bin ich dann immer zusammen mit meinem jüngeren Bruder für eine Woche hingefahren. Aber die Geschichte, wie meine Oma meinen Bruder und mich mit Opas Grappa unter den Tisch gesoffen hat (und zwar nacheinander!) hebe ich mir für später auf.
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