Montag, 3. April 2000

Meine lieben Küken,

 (Für das Abschlussheft DER 10. Klasse, die dereinst meine allererste fünfte Klasse als Klassenleiter war.)

es war schon ein komischer Tag, „damals“ im Sommer ´94! Ich hatte alles so perfekt geplant, dass eigentlich nichts schief gehen konnte: ich war am Morgen zuvor noch einmal die Busstrecke von Oberplanitz bis zur Zentralhaltestelle gefahren, nur um sicher zu gehen, dass ich die Busfahrzeit richtig eingeschätzt hatte. Ich hatte mich sogar für einen früheren Bus entschieden, damit ich bloß nicht zu spät komme. 


Und dann saß ich an diesem brüllend heißen Augustmorgen im Bus, mit weißem Hemd und der guten Papageienkrawatte. Ich hatte ordentlich gefrühstückt und sogar noch mein Hemd gebügelt, und das tue ich wirklich nur zu ganz besonderen Anlässen. Ich hatte mir in den vergangenen Tagen und Nächten immer wieder ausgemalt, wie sie wohl sein würde, meine erste Klasse. Kinder der Großstadt oder aus dem ländlichen Umfeld? Markenbewusste Adidasgören oder lauter kleine Revoluzzer?


„Stadtkinder“ dachte ich jetzt im Bus. „Sicher alle neurotisch und voller Vorurteile gegen Leute aus dem Westen.“ – „Vielleicht sind es aber auch einfach nur nette, kleine Kinder, die pausenlos herumwuseln und lauter lustiges, dummes Zeug anstellen!“ Dummes Zeug? VERANTWORTUNG???!!! Das Wort erschien auf ein mal mit roten Leuchtbuchstaben in meinem Bewusstsein. „Oh mein Gott! Du hast ja noch nie eine Klasse geleitet!“ wurde mir schlagartig klar, als der Bus ebenso schlagartig stehen blieb. 


Irgendwie hatte sich wohl herumgesprochen, dass Linienbusse am ersten Schultag selten pünktlich ihr Ziel erreichen. Viele Eltern hatte deshalb die Idee gehabt, ihre Kinder persönlich an der Schultüre abzuliefern. Der Verkehrsstau, der sich aus den vielen, zur Innenstadt strebenden Elternfahrzeugen ergab bewirkte, dass tatsächlich niemand wirklich pünktlich war an diesem komischen Tag, weder Busse, noch Eltern. Ich schwitzte in dem heißen Bus wie ein Schwein - ich muss es an dieser Stelle einmal so deutlich sagen - , das frisch gebügelte Hemd zerknitterte zusehends, und der mühsam ausgeklügelte Zeitplan brach zusammen, besser: zerfloss. 


Als ich endlich im Peter-Breuer-Gymnasium ankam, hatte ich ungefähr eine halbe Stunde Verspätung und fühlte mich schon wie Freitagabend. Im Sekretariat war auch niemand, so machte ich mich auf die Suche. Vor dem späteren Informatikzimmer sah ich dann eine Menschentraube - „Verzeihung....darf ich bitte ´mal vorbei?“ - und hörte von drinnen so etwas wie „.....uth ist leider noch nicht eingetroffen....“ 


„Hallo! Ich bin da! Ich will meine Klasse haben, und zwar sofort! Ganz egal, wie sie ist!“ schrie ich in Gedanken. Irgendwann stand ich dann endlich vor der Menschenmenge aus Eltern, Schülern und Gästen und las eine Liste mit Namen vor. Ich hatte diese Liste noch nie zuvor gesehen, und ich danke meinem Schöpfer noch heute dafür, dass auf dieser Liste keine Namen gestanden haben die ich nicht aussprechen konnte. Wer weiß, wie viele ich trotzdem falsch ausgesprochen habe, in dem Wahn alles richtig zu machen. Wer weiß, wie viele Kinderseelen ich durch falsche Aussprache des Namens verletzt habe, an diesem komischen Tag. Eigentlich will ich es heute auch gar nicht mehr so genau wissen!


Um es kurz zu machen: letzten Endes landete ich mit einer Schar aus neugierigen und verschüchterten Kindern im Klassenzimmer. Süße Kinder waren das: mit großen Kulleraugen unter roten, blonden oder braunen Strubbelköpfen die ihre Mütter mit sichtbarer Anstrengung glatt gekämmt hatten. Kinder mit und ohne Sommersprossen und kurzen Hosen oder langen Sommerkleidern, kleine Zappelphilippe mit viel zu großen Schulranzen oder schüchterne, langsame Bohnenstangen, die ihren Ranzen vergessen hatten. Die gute Papageienkrawatte habe ich sofort ausgezogen, ebenso das Jackett. Es war nämlich nicht nur ein komischer, es war vor allem ein irrsinnig heißer Tag, falls ich das noch nicht erwähnt haben sollte.


„Jetzt sollten wir uns wohl erst einmal kennen lernen!“ sagte ich und erklärte Euch das Krokodilspiel: „Ich bin der Fritz, und das ist das Krokodil, und das habe ich vom Peter bekommen, und der hat es vom Klaus, und der hat es von der Lisa.....“ – Ihr wisst schon. Natürlich konntet Ihr das Spiel viel besser als ich und alle lachten sich kaputt über mein schlechtes Namensgedächtnis. Aber das Eis war gebrochen und wir freundeten uns an.


In den nächsten Jahren erlebten wir wirklich eine ganze Menge - Erfreuliches und auch weniger Erfreuliches. Erinnert Ihr Euch noch an meinen Ausrutscher beim Fangen Spielen? Hei, war das eine Freude, seinen Lehrer in den Matsch segeln zu sehen! Oder an die feucht-fröhliche Ruderpartie auf der Altmühl? Wenn ich mir den Wandererlass und all die anderen Verordnungen heute so ansehe, kann ich nur sagen: Gott sei Dank, dass auf dieser Fahrt nichts passiert ist! Ich habe da nämlich an jedem Tag dieser Fahrt mit mehr als einem Bein im Gefängnis gestanden. Und überhaupt: Eichstätt war von allen Klassenfahrten, die ich bisher organisiert habe, die allertollste, vielleicht gerade WEIL wir es mit den Bestimmungen nicht so genau genommen haben. Dadurch ist Sascha in den Genuss eines ganztägigen Huckepackrittes gekommen, Christian hatte das zweifelhafte Vergnügen, anschließend mit einer Lungenentzündung im Bett zu liegen, wir bestaunten Eric, der mit seinem Charme die Herzen der zwei Jahre älteren Mädchen im Sturm eroberte, Sonnenbrand haben wir uns Quadratmeterweise eingefangen („Sonnenölalarm!!!“) und ich habe zumindest einen neue Badehose bekommen (*kicher*). 

Für mich war die Zeit als Euer Klassenleiter ausgesprochen lehrreich. Ich habe gelernt, dass mein Weg, die Fünf gerade sein zu lassen, oft, wenn auch nicht immer, der richtige Weg ist. Ich habe gelernt, dass man als Lehrer seine Schwächen nicht unbedingt verstecken muss: wer seine Schüler aufrichtig mit all ihren Schwächen und Fehlern liebt, der wird seinerseits auch von ihnen geachtet, selbst wenn er ´mal einen schlechten Tag hat, an dem nichts, aber auch überhaupt nichts klappt. 

Nach drei Jahren war aber die Luft erst einmal raus: Ihr kanntet all meine billigen Tricks, ich kannte Eure. Die Spannung war weg, der Unterricht war für beide Seiten absolut vorhersehbar, berechenbar und auch langweilig geworden. Es wurde also Zeit für einen Wechsel der Klassenleitung. Mit Frau Kröpfl habt Ihr da, so glaube ich, einen ebenso guten Fang gemacht wie ich mit meiner nächsten Klasse, den „Mäusen“. (Küken durfte ich sie ja nicht nennen!) Trotzdem habe ich Euch nicht aus den Augen verloren: Im Informatikzimmer sahen wir uns zwar nur noch einmal in der Woche – es war dieses schreckliche „Fliessbandunterrichtjahr“, in dem ich sechs Klassen parallel durch die Informatik geschleust habe – aber dadurch war ich noch immer Mitglied der Klassenkonferenz. So habe ich natürlich alle wichtigen Entwicklungen in der damaligen 8b verfolgen können und mit wachsendem Interesse beobachtet. Der für mich bemerkenswerteste Vorgang war der „Schrumpfprozess“ der jetzt einsetzte: Etliche Abgänge – sei es wegen Leistungsschwächen oder sei es wegen spezieller Profilwünsche – ließen die Klasse auf unter 20 Schüler zusammenschmelzen.  Diese Erfahrung war für Euch sicher ebenso schmerzlich wie für mich. Doch ich denke, dass dies dem Arbeitsklima überaus förderlich war. Mit einer so kleinen Gruppe zu arbeiten ist für Lehrer wie Schüler der pure Luxus, denn individuelle Förderung wird möglich, wo früher im Massenbetrieb so manches Bedürfnis einfach unterging. So empfand ich unser fünftes gemeinsames Jahr – diesmal als Biologielehrer – wieder als ausgesprochen spannend. Ihr hattet Euch menschlich sehr positiv entwickelt, die Klassengemeinschaft wirkte auf mich vorbildlich: Schwächen einzelner Schüler wurden nun nicht mehr bespöttelt, sondern sie wurden von der Gemeinschaft aufgefangen. Jeder brachte seine individuellen Stärken und Fähigkeiten in das Gesamtergebnis ein, Ihr habt Euch gegenseitig ergänzt und so eine völlig neue Qualität entwickelt. Aus dem wuseligen Haufen kurzbehoster, sommersprossiger Wuschelköpfe war ein echtes Team geworden, eine Gemeinschaft aus Schülern, die als werdende Erwachsene ernst zu nehmen mir nicht schwer gefallen ist. Wer hätte das gedacht, an diesem komischen und heißen Sommertag 1994?

Gerne hätte ich Euch noch länger begleitet, Eure Entwicklung weiter verfolgt. Unser Abschied war deshalb auch sehr schwer für mich: Ihr habt mir zum Schluss noch ein Lied gesummt, das Hauptmotiv aus dem Film „1492“, und ich stand vor Euch mit einem Kloß im Hals und feuchten Augen, bereit neue Welten zu entdecken wie einst Kolumbus. (nein, DAS ist jetzt wirklich zu viel Pathos!) Die Entfernung zwischen Zwickau und meiner neuen Heimat ist zwar nicht ganz so riesig wie die zwischen Europa und der neuen Welt, doch für einen Tagesausflug ist sie zu groß. Angesichts der für mich weitgehend neuen Lehrpläne und dem damit verbundenen Aufwand an Unterrichtsvorbereitungen, angesichts des vielen, für mich weitgehend neuen Unterrichts in der Oberstufe und des aufwändigen Umzugs über fast 600 km, blieb mir im vergangenen Schuljahr keine Zeit für Besuche am Peter-Breuer-Gymnasium.  Dass wir dennoch den Kontakt aufrecht erhalten haben – ich erinnere hier stellvertretend für zahllose Briefe, Emails und Telefonate nur an das herrliche Geburtstagspäckchen – freut mich besonders, denn schließlich seid Ihr immer noch „meine Küken“ und werdet es immer bleiben. 

Und nun steht Euch der letzte große Bruch vor dem Abitur bevor: die Auflösung der Klassengemeinschaft und der Übertritt in die Oberstufe. Zum ersten Mal werdet Ihr nicht mehr von einem Klassenleiter betüddelt, der täglich eure Fehlstunden überprüft und Euch wichtige Termine an die Tafel schreibt. Eigenverantwortung wird in Zukunft groß geschrieben. Zum ersten Mal habt ihr alle unterschiedliche Stundenpläne und in fast jeder Stunde eine neue Lerngruppe. Ich hoffe sehr, dass wir Klassenleiter der ersten Jahre Euch auch auf diesen Schritt vorbereitet haben: Sooft es ging haben wir versucht, selbständiges Lernen zu trainieren und auch Klassenübergreifend mit Euch zu arbeiten, damit dieser vorerst letzte Bruch nicht zu schwer für Euch wird. War es der Mühe wert, mit Euch drei Klassen gemeinsame Klassenausflüge und Besinnungstage zu organisieren? War es richtig, Gruppen- und Projektarbeit mit Euch zu üben? Sicher werdet Ihr mir in den kommenden Jahren davon berichten – ich freue mich jetzt schon auf Eure Briefe!

Für Eure weitere Ausbildung, egal ob in der Oberstufe oder in einem Beruf, wünscht Euch von ganzem Herzen alles Gute und viel Erfolg

Adolf Kluth