Montag, 1. Februar 1999

Wie ich nach Zwickau kam

oder:

Das Skelett auf dem Beifahrersitz

(Für eine Festschrift an meiner ersten Stelle gegen Ende der 90er)

Also wie war das noch im Mai 1994? Da fand ich auf meinem Anrufbeantworter in Trier eine Mitteilung: „Hallo Herr Kluth, hier ist das Peter-Breuer-Gymnasium in Zwickau. Ich wollte ‘mal fragen, wann Sie sich bei uns vorstellen!“ - Nicht ob, son­dern wann! Peter-Breuer-Gymnasium? Noch nie gehört! Ich hatte gerade für meine Referendarskollegen und mich ein Verzeichnis aller deutschen Privatschulen erstellt, aber da gab es kein Peter-Breuer-Gymnasium. Hatte ich mich vielleicht verhört? Vielleicht ein schlechter Scherz? Zwickau? Wo liegt das eigentlich? Ist das nicht ir­gendwo im Südosten der Republik? Der Atlas hilft weiter: Aha! Über 100.000 Ein­wohner, Industrie jede Menge - hoffentlich gibt’s die noch! Rohstoffe im Erzgebirge? Uran! Hoppla, was mich da wohl erwartet? Die „Daten zur Umwelt“ konsultieren: Ach Du Sch...! Das sieht aber böse aus! Nun gut, anrufen wird wohl nicht schaden. Zu­erst hatte ich einige Probleme mit der recht deutlicher Dialektfärbung meines Ge­sprächspartners, schließlich hatte ich mich als überzeugter Rheinländer gerade erst an das auch nicht leicht zu verstehende Trierer Moselfränkisch gewöhnt. Aber dann ging alles ganz schnell: Ein Gymnasium sollte aufgebaut werden, christlich sollte es sein, ein Bio-Geo-Lehrer würde auch noch gebraucht und zwar zack-zack! 
Kurz: Ich habe alle meine Vorurteile über die neuen Bundesländer im allgemeinen und über eine Stadt in einem industriellen Verdichtungsraum im besonderen über Bord geworfen, mich an einem schwül-warmen Freitagabend in einen Nachtzug ge­setzt, um mir dieses Peter-Breuer-Gymnasium, das es im Mai 1994 noch gar nicht gab, erst einmal anzusehen. 
Zwickau Hauptbahnhof: Es war früh, ich hatte im Zug kein Auge zugemacht. Der Himmel zeigte sich königsblau, die Baustellen staubten und brüllten mich an. Ich nahm, wie von Frau Winkler empfohlen, die Straßenbahn. Das waren noch nicht diese dicken, flüsterleisen high-tech Boliden, sondern alte, bemitleidenswert klapp­rige Bimmelbähnchen. Ich fuhr vorbei an vielen vergammelten, aber restaurierungs­würdigen Häusern, an alten Alleebäumen, die sich zur Fahrbahn bückten, an Ge­schäften mit für mich merkwürdigen Namen wie „Gute Schuhe für wenig Geld“, an ein paar blitzblank erneuerten Häuserfassaden und an Baustellen, immer wieder Baustellen. Mein erster Eindruck von Zwickau war: diese Stadt ist eine riesige Bau­stelle in der so ganz nebenbei auch über 100.000 Menschen leben. Das Gebäude in der Georgenstraße 3-5 habe ich mir erst einmal in Ruhe von außen angesehen. „Eine tolle Gründerzeitfassade ist das,“ dachte ich mir „daraus kann man bestimmt etwas machen.“ Aber drinnen stolperte ich dann zunächst über Bauschutt. - You can’t judge a book by its cover! Frau Winkler kannte ich schon vom Telephon, Herr Reger war auch da, Pater Lange und Superintendent Mieth. Und dann haben wir uns erst einmal bei einer Tasse von Frau Winklers leckerem Kaffee zusammengesetzt: der Beginn einer wunderbaren Freundschaft! Ich habe mir alles erklären lassen: Ein neues, christliches Gymnasium in einem alten Gebäude, natürlich von Grund auf sa­niert. Schüler haben wir schon, das Kollegium ist jetzt auch komplett, Möbel sind be­stellt, Sie brauchen jetzt nur noch die Schulbücher für Ihre Fächer auszusuchen, und dann kann es im August losgehen. Wie bitte? Im August soll ich in dieser Baustelle unterrichten?
Bisher hatte mich ja noch niemand ausdrücklich gefragt, aber das war auch unnötig. Natürlich wollte ich mitmachen! Welcher einigermaßen vernünftige Lehrer will schon an der Lahn in einem riesigen Gymnasium einen kurz vor Schuljahresbeginn abge­sprungenen Kollegen ersetzten, wenn er beim Aufbau einer neuen Schule mitwirken kann? Eine solche Chance gibt es nur einmal im Leben. 
Und so fuhr ich, bewaffnet mit Lehrplänen, Lehrmittelkatalogen, Schulbuchprospek­ten und dem Immobilienteil der Freien Presse im nächsten Nachtzug nach Trier. Ich machte wieder kein Auge zu, diesmal aber nicht wegen des Lärms im Zug, sondern weil mir im Grunde erst jetzt klar wurde, auf was ich mich da eingelassen hatte. So vieles mußte noch erledigt werden: Mit Schulbuchverlagen telefonieren, mit Lehr­mittelhändlern schachern, den Vertreter des Mikroskopherstellers mit einem Probe­exemplar heranzitieren und schließlich brauchte ich ja auch noch eine Wohnung. Ich erreichte mein Bett deutlich zerknittert und mit einer käsigen Gesichtsfarbe. In den nächsten Wochen fuhr ich immer wieder mit dem Nachtzug - 11 ½ Stunden - nach Zwickau und organisierte eine Wohnung, Telephon, Mikroskope, Bücher und, und, und... Schließlich brachen die Sommerferien in Rheinland-Pfalz an, meinen Umzug brachte ich an einem wüstenheißen Sommertag, bewaffnet mit Kleinlaster und Handy, so schnell wie möglich hinter mich und bezog in Oberplanitz Quartier. 
Die aufregendste Zeit waren die Wochen kurz vor Schuljahresbeginn. Wann würden mir endlich wieder Kinder zwischen den Füßen herumwuseln? Wie würden die Schüler sein? Würden die Bauarbeiten rechtzeitig beendet werden? Wie bekommen wir die schönen aber leeren Schränke in den Fachkabinetten voll?
Die erste Begegnung mit den neuen Kollegen: Ich spürte spontane Sympathie einer­seits, schließlich ließen sich ja alle auf ein großes Wagnis ein. Andererseits übten wir auch ein wenig vorsichtige Zurückhaltung, denn hier trafen sich ja Menschen mit völ­lig unterschiedlichen Lebensgeschichten, mit unterschiedlichen Erfahrungen und Temperamenten. Rheinländer und Bayern, Sachsen und Niedersachsen - ob das wohl gut gehen würde? Doch dazu später mehr!
An einem späten Montag Vormittag, ich bin mir nicht sicher ob das Schuljahr schon begonnen hatte oder nicht, tauchte Pater Lange auf. Er hatte, Gott weiß woher, ei­nen VW-Bus organisiert: „Herr Kluth, wir fahren jetzt die Biologiesammlung holen!“ In der Tat hatte ich in der letzten Zeit öfter in anderen Schulen gewühlt. Wo immer eine Mittelschule zur Grundschule umgewandelt wurde, wurden ja die Sammlungen nicht mehr gebraucht und waren „zum Abschuss freigegeben“. Unterstützt von einigen mit einem Rieseneis bestochenen Grundschülern luden also Pater Lange, Herr Dr. Gru­ber und ich den Transporter und Herrn Grubers Auto mit unseren frisch erworbenen Schätzen voll. Das Skelett Marke „VEB-Plaste-und-Elaste-aus-Schkopau“ fiel beim Einladen fast auseinander, ein Bein mußte ich aus Sicherheitsgründen sofort mit ei­ner Kombizange amputieren. Um den Knochenmann nicht noch mehr zu beschädi­gen, schnallten wir ihn kurzerhand auf dem Beifahrersitz des Bullys fest. Den rechten Arm legten wir in Mantafahrerart auf den Rahmen des geöffneten Fensters. Ich selbst kniete mich in den Laderaum zwischen staubige Karten und hielt mit Händen und Füßen fest, was umzufallen oder zu zerbrechen drohte. Das amputierte Kno­chenbein ragte aus irgendeinem Karton. Bei der anschließenden Fahrt durch die Stadt bemerkte ich Erstaunliches: Obwohl Pater Lange mit sichtlichem Vergnügen immer wieder die Aufmerksamkeit der Passanten auf seinen makaberen Kopiloten zu lenken suchte, wurde dieser fast von niemandem bemerkt. Offensichtlich war je­der so mit sich selbst beschäftigt oder in seine Sorgen vertieft, daß das Skelett gera­dezu unsichtbar war. Nur als wir an einer Ampel neben einer Straßenbahn hielten, zappelte ein Kind in der Tram herum und versuchte seiner Mutter unseren Mitfahrer zu zeigen. Diese glaubte ihrem Sprößling zunächst nicht, von ihren Lippen konnte ich noch die Worte „Du spinnst!“ ablesen. Erst als die Bahn sich schon wieder in Be­wegung setzte, sah sie das grausige Grinsen des Totenschädels. Ihren ungläubigen Gesichtsausdruck, mit herunterhängendem Unterkiefer und weit aufgerissenen Au­gen, werde ich sicher nie mehr aus meinem Gedächtnis löschen können. Pater Lange bog sich derart vor Lachen, daß er beinahe die anfahrende Straßenbahn ge­rammt hätte. 
Und überhaupt: Wer braucht schon Lehrmittel? In den ersten Wochen trudelten die Bestellungen ja nur nach und nach ein. In so manchem Fach mußten die Lehrbücher von den Verlagen erst noch gedruckt werden und trafen deshalb erst in oder nach den Herbstferien ein. Karten für den Geographieunterricht gab es zunächst noch nicht oder nur uralte, aus dem Fundus der „abgestaubten“ Schulsammlungen; auch in der Physik fehlte es noch an allen Ecken und Enden. So sah man mich zu Beginn des Schuljahres 94/95 oft mit einem Wasserball als Globus und einem Fleischerha­ken als Kartenaufhänger bewaffnet durch die Gänge gehen. Die Klimakarte für die 7. Klasse hatte ich kurzerhand aus einem Atlas abphotographiert und zeigte sie jetzt als Dia. Dr. Schmieder beförderte immer wieder Selbstgebasteltes in die Physik. El­tern und Freunde der Schule stifteten das Aquarium, Bücher, Zimmerpflanzen, An­schauungsmaterial oder packten einfach mit an. Jeder improvisierte nach Kräften, es wurden private Diaprojektoren und Kassettenrecorder angeschleppt und der eigene Kleiderschrank nach Laken durchforstet, die wir für einen Gottesdienst zerschneiden wollten. Überall wurden Bücher erbettelt, Computerprogramme oder uralte Karten­ständer (erinnert Ihr Euch?) erschnorrt, selbst die ersten Polylux-Geräte - Friede ih­rer Asche - haben wir irgendwo auf einem Dachboden gefunden.

Im ersten Jahr entstand so eine verschworene Gemeinschaft aus elf Leuten, die alle an einem Strang zogen: die Sekretärin, der Hausmeister, die Lehrer und der Direk­tor. Egal was wir taten: alle faßten, je nach Fähigkeiten, mit an und halfen sich ge­genseitig. Die Bücher müssen ge­stempelt werden? Die Kollegen, die Sekretärin und der Chef stem­pelten gemeinsam die Bücher. Stahlschränke stehen im Weg? Alle Männer, egal ob Englischleh­rer oder Hausmeister krempelten die Ärmel hoch. Die Sekretärin ist krank? Schwupps, schon war Herr Mayer unsere neue Sekretärin. Der Computer spinnt? Laß mich ‘mal sehen, das kriegen wir schon wie­der hin! Eine Klasse muß in die Sporthalle XY gebracht werden? Ein Kollege fand sich immer! Kollege Z ist krank? Schon versammelte sich das Kol­legium um den Stundenplan und tüftelte gemeinsam die Vertretungsstunden aus. Wer Zeit hatte schrieb mit der Hand - man höre und staune - den Vertretungsplan und hängte ihn aus, erst später wurde er in den Rechner getippt. 
Es war eine wilde Zeit, anstrengend und voller Improvisationen. Oft haben wir am Nachmittag so lange in der Schule herumgebastelt, daß wir erst am Abend an den Schreibtisch kamen. So wurden Stundenvorbereitungen und Korrekturen manchmal erst nach Mitternacht fertig. Grauer hat sie mich gemacht, diese Zeit, grauer und ein wenig faltiger. Es war sicher das anstrengendste Jahr meines Lebens. Aber genau so hatte ich es mir ausgemalt, als ich im Mai 1994 mit dem Nachtzug von Zwickau nach Trier fuhr und vor Tatendrang und Aufregung nicht schlafen konnte, obwohl ich in der Nacht zuvor auch schon wach geblieben war. Genau so hatte ich es mir aus­gemalt und auch gewünscht. Die Entscheidung, nach Zwickau zu kommen um eine neue Schule aufzubauen, würde ich deshalb jederzeit wieder treffen.