Donnerstag, 25. November 1993

Aus dem Archiv (2)

Anfang der 90er schrieb ich in einem Lehrprobenentwurf:

"Der Berg ruft!" so schallt es mir noch in den Ohren, wenn ich an Luis Trenker, das alpen­ländische Fossil und Idol ganzer Generationen von Alpinisten, denke. Der Berg, der damals rief, unterschied sich eklatant von den Bergen, wie wir sie heute aus den Alpen kennen: 

Eine weitgehend intakte Natur lud ein zu Bergwandern und -steigern, wenige einsame Skifah­rer tummelten sich auf einsamen Waldwegen und Almen. Tatsächlich fand erst 1902 in Zer­matt der erste Skikurs statt, Skifahren war über Jahrzehnte das Wintervergnügen einer elitären Minderheit. Bergsteigen fand in kleinstem Kreis statt, Menschenmassen entstanden allenfalls, wenn sich ein tollkühner Alpinist beim Bezwingen der Eiger-Nordwand verirrt hatte; nämlich an den Radiogeräten in ganz Europa. Solche Ereignisse waren so selten, daß man sie noch ei­ner exklusiven Berichterstattung für Wert befand. 

Heute hat sich das Bild grundlegend gewandelt: Das Gedränge in mancher Berghütte gleicht den Ereignissen in der Kölner U-Bahn zur Rush-hour. Bis zu 270 Gäste hat man in der Goûter-Hütte am Montblanc-Massiv schon gezählt - auf 80 Plätzen. Die Eiger-Nordwand wird von den modern ausgerüsteten high-tech-Alpinisten nur noch belächelt, grinsend kleben sie an ge­frorenen Wasserfällen und atemberaubenden Überhängen wie Insekten an der Zimmerdecke. Wände des Schwierigkeitsgrades VII+ - sie galten bis vor zwanzig Jahren noch als unüber­windlich - bezwingen sie in neonpinkfarbenen, futuristisch anmutenden Kostümen, mit bloßen Händen, wie sich ganz von selbst versteht. Kein Vogel ist beim Brutgeschäft noch ungestört von diesen menschlichen Fliegen, so mancher Fels ist schon unter ihrem magnesiagefärbtem Schweiß zerbröselt. 

Doch so ärgerlich diese Störungen des Extrembiotops Alpen auch sein mögen, sie richten sich stets nur gegen die Natur selbst. Ob ein Adlerei wegen eines auf der Spitze einer einsamen Felsnadel vespernden Freeclimbers kalt wird, läßt die meisten Alpenbewohner (außer den Adlern) kalt.

Eine für den Menschen interessantere Frage ist es, in welcher Weise er sich durch Kommer­zialisierung der Natur seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Mit keiner anderen Variante des Tourismus läßt sich das in den Alpen deutlicher belegen als mit dem Wintersport. Durch keine andere Form der massentouristischen Nutzung ist es in den Alpen zu einschneidenderen Veränderungen gekommen als durch diese, kein Tourist in den Bergen sollte ein schlechteres Gewissen haben als der städtische Skiläufer, und hat es doch nicht.

Zunächst wurden nur die Hoch- und Voralmen von den Skifahrern zu Abfahrten genutzt, den Landwirten bot sich so eine willkommene Nebeneinnahme durch die Zimmervermietung.

Mit der zunehmenden Popularität des Sports und steigenden Übernachtungszahlen im Winter wurden mehr und mehr "Pistenautobahnen" als Schneisen in den Wald geschlagen, bis zu dreißig Skifahrer können sich heute nebeneinander ins nivale Vergnügen stürzen. Die Ab­fahrtsstrecken werden mit Planierraupen in den Wald gefräst, Humusdecke und Pflanzenbe­wuchs müssen dabei entfernt werden. Wo die Vegetation die Einebnung überlebt, wird sie von den Skifahrern selbst beseitigt; durch die Skikanten werden beim Abfahrtslauf Gräser und Kräuter regelrecht abrasiert, vor allem bei spärlicher Schneebedeckung in der Vor- und Nach­saison oder in schneearmen Wintern. Die Schneedecke, durch Schneekanonen künstlich ver­stärkt und durch Pistenraupen und Skifahrer angepreßt, benötigt im Frühjahr mehrere Wochen länger zum Abtauen als normal wäre; die Vegetationsperiode der davon betroffenen Pflanzen verkürzt sich entsprechend. Gerade solche Pflanzen, die an den Grenzen ihrer klimatischen ökologischen Nischen wachsen, vermögen diese Einschränkung ihrer Wachstumsperiode nicht mehr zu verkraften. Maschinenölreste aus den Pistenraupen und Skiwachs besorgen den Rest, verunreinigen zudem noch das Grundwasser, zurück bleibt nach einigen Jahren eine ve­getationsarme oder gar -freie Fläche mit verdichtetem Boden und hohem Gefälle - ideale Be­dingungen für einen verstärkten oberflächlichen Regenwasser-abfluß und den damit verbun­denen Erosionserscheinungen. So wurde auf einer Skipiste schon ein Bodenabtrag von 10,6 t/Jahr errechnet, ein Mischwaldstück mit vergleichbarer Hangneigung brachte es lediglich auf 10 kg/Jahr (Ganser, 1978, S. 758).

Um dem vorzubeugen, wurden verschiedentlich Versuche unternommen, die fraglichen Pisten mit besonders gezüchteten, widerstandsfähigen Grassorten zu begrünen oder den Wuchs der ansässigen Pflanzen mittels künstlicher Düngung zu fördern. Neben der Eutrophierung der Oberflächengewässer und des Grundwassers durch ausgeschwemmte Düngesalze ist hier ein Effekt eingetreten, welcher zunächst nicht abzusehen war: Das Wild hat sich, durch das ver­stärkte Futterangebot auf den sommerlichen Grünflächen, über das normale Maß hinaus ver­mehrt, im Winter drängen sich die scheuen Tiere jedoch, durch den Lärm des Skizirkus abge­schreckt, oft in nur wenige Hektar kleinen, abgelegeneren Waldarealen. Dort fressen sie dann, sofern sie nicht abgeschossen werden, den ohnehin geschädigten Bäumen die jungen Triebe und die Rinde ab und tragen so ihren Teil zum Waldsterben bei. 

Skipisten gefährden also direkt oder indirekt das empfindliche ökologische Gefüge des Berg­waldes. Neben der oben geschilderten Beeinträchtigung durch Wild sind hier v. a. noch zwei weitere Möglichkeiten anzuführen: 

- die Erhöhung der Windangriffsfläche bei künstlichen Schneisen (ein Schneisenrand bietet eben kein so aerodynamisches Profil wie ein jahrzehntelang gewachsener Wald­rand) und den damit verbundenen Windbruch,

- die indirekte Schädigung durch die durch den Anreise- und v. a. durch den Tagesaus­flugs- und den Pendelverkehr zwischen Hotels und Liftanlagen verursachten Luftschad­stoffe. 

Nach dem neuesten Waldschadensbericht (BML, 1993) sind in der Bundesrepublik inzwi­schen über 2/3 aller Bäume geschädigt, der B.U.N.D. bemängelt aber zu Recht statistische Mogeleien der Bayerischen Landesregierung. Diese schönt ihre Statistik dadurch, daß sie Bäume der Schadensklasse 4 (abgestorben) nicht mehr mit in die Auswertung einbezieht. Nach einer entsprechenden Korrektur dieser Zahlen kommt der B.U.N.D. daher auf noch alarmierendere Zahlen als der Bundeslandwirtschaftsminister. Auf die Bedeutung der Berg­wälder als Schutz vor Lawinen, Muren und Bergstürzen wird in der Literatur schon seit Jahr­zehnten eindringlich hingewiesen (z. B. Cernusa, 1977). Durch die zusätzliche Belastung durch touristischen Stra­ßenverkehr kann es aber zu einem endgültigen Zusammenbruch der Schutzwälder kommen. Bergstürze und Muren würden sich häufen und Lawinen sich unge­hindert durch Bannwälder in die Täler ergießen. Der Berg ruft dann nicht mehr, er kommt! 

Die Rückkopplung auf das ökonomische System der Alpen als Touristenziel wäre fatal: Wie schon nach dem spektakulären Bergsturz im Veltlintal 1987 zu beobachten, werden lawinen- und bergsturzgefährdete Gebiete von den Wintersportlern gemieden. Dem Durchschnittsskifahrer mag es egal sein, ob die Bäume unter der weißen winterlichen Schneehaube der Scha­densklasse 2, 3, oder 4 zuzurechnen sind, ob sich nach dem Abtauen im Frühjahr unter der Schneedecke saftige Kräuter oder nacktes Gestein zeigt, kümmert ihn wenig. Gefahr für Leib und Leben aber wird auch von den tollkühnsten Skiartisten in den wenigsten Fällen toleriert. Sie folgen den sommerlichen Wanderern, ohnehin sensibler für die Schönheit der Natur und daher zumeist schon bei Sichtbarwerden der ersten Schäden abgewandert, auf der Suche nach neuen Urlaubszielen. Neue, vermeintlich sicherere Pisten werden erschlossen, dieselben Fehler wiederholen sich. Die touristische Übernutzung entzieht sich so ständig selber die Grundlage. Zuerst erfolgt in den betroffenen Gemeinden ein Strukturwandel bis hin zu einer völligen Abhängigkeit von der Tourismusindustrie, immer mehr attraktive Abfahrten werden erschlossen, die Landschaft mit immer neuen Hotel- und Ferienwohnungskomplexen zersie­delt, bis sie derart an Schönheit eingebüßt hat, daß zunächst die Sommertouristen weniger werden. Durch die sich selbst verstärkende Abhängigkeit vom Wintersport (Verzehr der landwirtschaftlichen Nutzfläche durch Ausbau der touristischen Infrastruktur) werden immer neue landschaftliche Reize geopfert, mit den steigenden Besucherzahlen müssen immer neue Straßen gebaut werden. Ein verkehrstechnisch gut erschlossenes Wintersportgebiet lockt aber wieder zusätzliche Tages- und Wochenendausflügler, der Wald wird immer mehr geschädigt. Irgendwann bleibt dann der Touristenstrom aus. Besonders eindringlich wurde diese wechsel­seitige Abhängigkeit des ökonomischen Systems Tourismus vom ökologischen System des Hochgebirges in einer Studie unter der Federführung von Haber (1986) für das Untersu­chungsgebiet Berchtesgadener Land belegt. Sie kommt für das Untersuchungsgebiet zu dem Ergebnis, daß selbst bei einem gemäßigten Ausbau der touristischen Infrastrukur mit einem völligen Zusammenbruch der beiden Systeme innerhalb von etwa zwei Jahrzehnten zu rech­nen ist.