Mittwoch, 23. Februar 1994

Aus dem Archiv (1)

Anfang der 90er schrieb ich in einem Lehrprobenentwurf: 

Ananas aus Hamburg, Erdbeeren aus Island? Noch vor wenigen Jahren galt dies als eine durchaus realistische Einschätzung der Klimaentwicklung im nordatlantischen Raum, eine gleichbleibend hohe Steigerung der CO2-Emissionen vorausgesetzt. Ein globaler Anstieg der Temperaturen um durchschnittlich bis zu 3°C innerhalb von weniger als einem Jahrhundert kann als mögliches worst-case-Szenario angesehen werden, es verdichten sich sogar die Hin­weise darauf, daß der globale Temperaturanstieg bereits heute meßbar ist. Allerdings wird sich dieser Anstieg der Durchschnittstemperaturen nicht in allen Breiten gleichmäßig auswir­ken. Schon bei der Prognose mittels einfacher Klimamodelle und Computersimulationen vor etwa 10 Jahren wurde klar, daß sich der Temperaturanstieg in den tropischen Klimazonen am wenigsten, in den Polarregionen jedoch am stärksten ausprägen wird. Die Modellrechnungen des Hamburger Max-Plank-Instituts für Meterologie ergaben damals einen zu erwartenden Anstieg um lediglich 1°C in den Volltropen, jedoch eine Erhöhung der Jahresdurchschnitts­temperatur um über 7°C in den Polaregionen. So könnte Reykjavik innerhalb der nächsten 100 Jahre mit milden 7°C Januarmitteltemperaturen aufwarten (zum Vergleich Trier heute: 0,6°C), im Juli würden nach dieser Berechnung die Temperaturen auf subtropisch anmutende Mittelwerte von fast 19°C ansteigen (zum Vergleich Palma de Mallorca heute: 21,4°C).  

Über die weiteren Auswirkungen dieser Veränderungen wurde viel spekuliert: Die Prognosen der Auswirkungen und Rückkopplungen dieses Ereignisses reichten von einem globalen An­stieg der Meeresspiegel durch das Abschmelzen des Polareises bis hin zu der Gefahr einer neuen Eiszeit durch einem möglichen Zusammenbruch der von den Tropen in die Polarregion verlaufenden Meeresströmungen. Tatsächlich war es vor wenigen Jahren nicht nur unmög­lich, die Auswirkungen des Temperaturanstieges auf die Meeresströmungen auch nur annä­hernd zu prognostizieren, es wäre auch jenseits der technischen Möglichkeiten eines damali­gen Großrechners gewesen, diese Rückkopplungen in die Klimamodellrechnungen mit einzu­beziehen. Zwei wissenschaftlich technische Entwicklungen machten dies erst in jüngster Zeit möglich: - die Erforschung der bisher weitgehend unbekannten Tiefseeströmungen, die, stärker noch als die bisher bekannten oberflächennahen Strömungen, den globalen Wärmehaushalt beein­flussen und  - die Fortschritte auf dem Gebiet der Computertechnik, die den Wissenschaftlern des M.P.I Hamburg (und anderer Institute) nun Rechner zur Verfügung stellen können, die an Lei­stungsfähigkeit selbst die Großrechner vom Anfang der 80er Jahre weit übertreffen. 

Die Ergebnisse überraschten wiederum: Offensichtlich agieren die Meere als ein weltweiter Klimapuffer, ein globaler Wärmetauscher, der sämtliche Reaktionen des Klimasystems Erde zunächst verlangsamt. Andererseits neigt dieses zunächst sehr stabil erscheinende System vermutlich zu einem mehr oder weniger plötzlichen "Umkippen" in einen neuen Gleichge­wichtszustand. Dies bestätigen auch die jüngsten Ergebnisse der Paläoklimatologie: offen­sichtlich fanden auch die Klimaveränderungen der jüngsten erdgeschichtlichen Vergangen­heit, dem Pleistozän, recht plötzlich statt, das globale Klimasystem ist vermutlich innerhalb weniger Jahrzehnte von einem Zustand in einen anderen umgekippt, in dem es dann wieder­um für viele Jahrtausende verharrte. 

Gerade die kurzfristige Trägheit des Systems "Erdklima" machen aber mittelfristige oder gar langfristige Prognosen recht schwierig. Die neueren Pro­gnosen aufgrund gekoppelter (die Tiefseeströmungen miteinbeziehender) Modellrechnungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: - der globale Temperaturanstieg wird vermutlich zunächst langsamer ablaufen, als bisher an­genommen, - er wird in einigen Regionen der Erde trotzdem zu einem drastischen Anstieg der Jahresmit­teltemperaturen führen, in anderen jedoch zu einem zum Teil sehr dramatischen Absinken der Temperaturen. Vor allem der nordatlantische Raum ist von einem möglichen Absinken der Temperaturen betroffen. Grönland, Island, Nordeuropa und damit bei entsprechenden Wetterlagen auch Mitteleuropa werden nach den neuesten Berechnungen um ein oder z. T. mehrere Grade kühler werden. Teilweise wird sogar das dauerhafte Zufrieren des Nordmeeres und damit eine neue kleine Eiszeit innerhalb der nächsten 50 Jahre diskutiert. 
Die Produktion von Erdbeeren auf Island würde sich damit erübrigen, allenfalls Erdbeereis wäre dann noch machbar. 

Um zu verstehen, warum es gegebenenfalls in Nordeuropa scheinbar ungewöhnlich kalt wer­den wird, muß zunächst der Frage nachgegangen werden, warum es zur Zeit hier so unge­wöhnlich warm ist. Vergleicht man nämlich das Klima Nordeuropas mit den Klimaten ander­er auf den gleichen Breitenkreisen gelegener Regionen, so stellt sich eine überraschende Er­kenntnis ein. Ein Beispiel: Die Station Oimjakon in Ostsibirien meldet ein Januarmittel von -50,1°C; schneidige -71°C wurden hier schon als absolutes Minimum gemessen. In Reykjavik ist im Januar lediglich mit Temperaturen um -0,3°C zu rechnen, Interessanterweise liegt Oimjakon um einen Breitengrad weiter südlich als Reykjavik. Das Julimittel von Oimjakon löst das Rätsel zunächst auf: 14,5°C, und damit eine Jahresamplitude von fast 55°C weisen die Station als hochkontinental aus, während sich auf Island die ausgleichende Wirkung des Meeres mehr als deutlich zeigt. Doch allein mit dem Begriffspaar Maritimität/Kontinentalität ist auch hier nicht alles zu erklären. Anadyr, an der sibirischen Ostküste unter maritimem Einfluß und exakt auf derselben geografischen Breite wie Reykjavik gelegen, registriert ein Januarmittel von -22,7°C, über 22°C weniger als die isländische Station.  Was Ostsibirien fehlt, ist die Warmwasserheizung Europas, wie der Journalist W. Frese den Golfstrom einmal sehr treffend genannt hat. Aus der Karibik kommend transtportiert er Men­gen an Wärmeenergie nach Europa, die etwa einem Drittel der gesamten Wärmeeinstrahlung auf dem Nordatlantik entsprechen. Ohne diese Wärme wäre kein norwegischer Hafen eisfrei und in Südengland würden eben keine Palmen wachsen. Er ergießt sich um Island herum in das europäische Nordmeer und verzweigt sich hier. Der größte Teil fließt in die Meeresge­biete im Dreieck Grönland, Island und Spitzbergen. Der Strom verengt sich dort auf wenige Kilometer Breite, einem dünnen Lebensfaden gleich, und versinkt schließlich in dieser Meeres­region in der Tiefe. Würde dieser Faden abreißen, bräche das europäische Klima, wie wir es kennen, zusammen. 

Und genau das befürchten nicht nur die Wissenschaftler des Ham­burger MPI. Ohne das Versinken in diesem ozeanischen Tiefseegully würde er sich nämlich niemals so weit nach Norden ergießen, er würde schon einige 100km vor der englischen Kü­ste deutlich an Kraft verlieren. Es wird vermutet, daß die ungewöhnlich harten europäischen Winter der 60er Jahre auf ein wenigstens partielles Abreißen dieser Meereströmung zurück­zuführen sind, es besteht ferner Grund zu der Annahme, daß der nacheiszeitliche Tempera­tursturz der Dryaszeit von über 700 Jahren ebenfalls mit einem vorübergehenden Versiegen der nördlichen Ausläufer des Golfstromes in Zusammenhang stand.  Das Versinken von oberflächlichem Meerwasser in größere Tiefen stellt aufgrund sehr stabi­ler Schichtungen im Ozeanwasser einen so ungewöhnlichen Vorgang dar, daß er auf der Erde nur in drei Regionen überhaupt in nennenswertem Umfang stattfindet: im antarktischen We­dellmeer, der Labradorsee und im europäischen Nordmeer. 

Die Triebfeder für dieses Ereignis ist bekannt und sei für den letzten Fall genauer beschrieben: Das aus den warmen Regionen des Atlantik heranströmende Wasser des Golfstromes hat nicht nur relativ hohe Temperatu­ren, sondern aufgrund der erhöhten Verdunstung auch den höchsten Salzgehalt aller großen Ozeane und damit ein, gemessen an seiner Temperatur, recht hohes spezifisches Gewicht. Durch Kontakt mit kalten arktischen Luftströmungen sinkt die Temperatur dieses salzreichen Wassers ab, sein spezifisches Gewicht erhöht sich. Schließlich hat es ein derart hohes Ge­wicht, daß es in der Lage ist, die stabilen Schichtungen im Meerwasser zu durchbrechen und als kaltes salzreiches Wasser in der Tiefe zu versinken. So mündet der Golfstrom in eine glo­bale Tiefenwasserströmung, in der er für viele Jahrhunderte verweilt, bevor er im Pazifik wieder an die Oberfläche kommt.  Die Bildung des Tiefenwassers hängt also von der Veränderung des spezifischen Gewichts des Oberflächenwassers ab, dieses ist an die Faktoren Temperatur und Salzgehalt gebunden. 

Das Szenario, welches schließlich zum Ende der Tiefenwasserbildung im Nordmeer und damit zu einer relevanten Abschwächung des Golfstroms führen könnte, ist weitgehend an den Faktor Salzgehalt gebunden. Durch den globalen Temperaturanstieg könnten größere Mengen grönländischen Inlandeises abschmelzen und sich somit der Salzgehalt des Nordmee­res verändern. Ebenfalls denkbar ist ein erhöhter Süßwassereintrag aus Asien, denn einerseits entwässern zwei Drittel des asiatischen Kontinentes nach Norden, andererseits könnten sich die kontinentalen Niederschläge bei einem globalen Temperaturanstieg erhöhen. So oder so: schon eine Verringerung des Salzgehaltes im Nordmeer um nur 2 Promille hätte eine Verrin­gerung der maritimen Wärmezufuhr um 20% zur Folge. Die strengen Winter der 60er Jahre können so mit einer größeren Menge weniger salzhaltigen Wassers, der "Great Salinity Anomaly" mit einem um 1,8% reduzierten Salgehalt, zu erklären sein, die man seit etwa 1968 im Nordatlantik verfolgt. Durch ihr stark herabgesetztes spezifisches Gewicht vermischt sich diese Süßwasserblase nur über Jahrzehnte mit dem übrigen Meerwasser, und treibt wie ein gigantischer Stopfen im nördlichen Atlantik herum. Immer dann, wenn sich die "Anomalie" im oben beschriebenen Meeresdreieck aufhielt, konnten nicht nur ungewöhnlich kühle Winter in Nord- und Mitteleuropa registriert werden, sondern auch eine deutliche Zu­nahme isländischer Gletscher.  Der Salzgehalt des Nordemeeres stellt somit die Achillesferse des nordeuropäischen Klimas dar. Würde sich dieser gar so weit verringern, daß es zu einem Zufrieren des Nordmeeres kä­me, bräche der Golfstrom ganz ab, eine neue kleine Eiszeit in Nordeuropa wäre die Folge.

Die Ursache des Temperatursturzes des Dryaszeit läßt sich so wie folgt erklären: Mit dem Abschmelzen der Inlandeismassen in Nordamerika gegen Ende der letzten Kaltzeit entstand ein zunächst abflußloses Süßwassermeer im Zentrum des nordamerikanischen Kontinents. Das hier gesammelte Schmelzwasser entwässerte zunächst nur unvollständig durch den heuti­gen Mississippi in den Golf von Mexiko. Erst als die Gletscher sich hinter die Linie des heuti­gen St. Lorenz-Stromes zurückzogen, war eine Entwässerung in Richtung Osten möglich. In­nerhalb weniger Jahre ergoß sich das über Jahrzehnte angesammelte Schmelzwasser in den Nordatlantik und führte dort zu einem Abbruch der Tiefenwasserbildung; eine erneute Kalt­zeit von ca. 700 Jahren Dauer war die Folge. 

Das vorgestellte Beispiel einer Modellrechnung zeigt, wie außerordentlich schwierig das Verhalten eines komplexen Systems wie Klima zu prognostizieren ist. Die vereinfachte Aus­sage: "Wenn die durchschnittlichen Temperaturen auf der Erde steigen, steigen diese auch in allen Regionen", muß aber auf jeden Fall als falsch angesehen werden. Wie sich das Klima aber in den einzelnen Regionen der Erde wirklich entwickeln wird, ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand nicht sicher vorherzusagen, zu viele der beteiligten Komponenten entziehen sich einer hinreichend genauen Kenntnis. Selbst wenn diese bekannt wären, könnten die komplexen Rückkopplungen zwischen den Komponenten nur unbefriedigend simuliert wer­den, denn die technischen Möglichkeiten der Großrechner sind auch heute noch zu begrenzt. 

Es verwundert daher nicht, daß sich auch gegen die oben skizzierte Prognose der möglichen Klimaentwicklung mühelos Gegenargumente finden lassen. So bleibt beispielsweise die Frage offen, warum zur Zeit der Besiedlung Islands das Klima nicht nur auf der gesamten Nord­halbkugel deutlich wärmer war, sondern auch im nordatlantischen Raum, der ja nach der obi­gen Modellrechnung eigentlich im gegenläufigen Sinn reagieren sollte. Zur Zeit der Land­nahme Islands war es dort aber immerhin so warm, daß in weiten Teilen der Insel Getreide­anbau möglich war und auch betrieben wurde, wie in historischen Quellen eindeutig belegt ist. 

Abschließend sei noch angemerkt, daß mit der Tiefenwasserbildung ein starkes Aufwirbeln von nährstoffreichen Sedimenten verbunden ist, die dann von vertikalen Ausgleichsströmun­gen an die Oberfläche verfrachtet werden. Diese Nährstoffe stellen wiederum die Lebens­grundlage für eine ganze Nahrungskette dar. Island verdankt also nicht nur sein mildes Klima der Tiefenwasserbildung im Nordatlantik, sondern auch den Fischreichtum seiner Gewässer, mit dem die Bevölkerung der Insel einen großen Teil ihres Bruttosozialproduktes erwirschaf­tet.